Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendung auf Lebensversicherung. (Q1505230)

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Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendung auf Lebensversicherung.
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    Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendung auf Lebensversicherung. (English)
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    1903
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    Das vorliegende Werk ist von den interessierten Kreisen mit großer Spannung erwartet worden. Ein deutsches Lehrbuch der Wahrscheinlichkeitsrechnung, geeignet zur Einführung in diese mit dem praktischen Leben so vielfach verknüpfte Disziplin und ihre hauptsächlichsten Anwendungen, hat stets gefehlt. Die Bearbeitungen fremdsprachlicher Werke, wie z. B. die von \textit{Czuber} im Jahre 1879 besorgte Ausgabe der \textit{A. Meyer}schen Vorlesungen, mußten bei dem schnellen Fortschreiten der Wahrscheinlichkeitstheorie gerade innerhalb der beiden letzten Jahrzehnte bald veralten. Wenn gleichwohl dem unzweifelhaft vorhandenen Bedürfnisse nicht schon seit langem abgeholfen worden ist, so dürfte der Grund darin zu finden sein, daß eine sachgemäße Behandlung des Gegenstandes, vor allem der Anwendungen auf Statistik und Versicherungswesen, einen in der Theorie wie in der Praxis gleich erfahrenen Autor erforderte. Der Verf. des als neunter Band der \textit{Teubner}schen Lehrbücher erschienenen Werkes hat, wie es nach seinen früheren zahlreichen Schriften auf dem Gebiete der Wahrscheinlichkeitslehre erwartet werden dürfte, seine schwierige Aufgabe im allgemeinen befriedigend gelöst. Die Darstellung der eigentlichen Wahrscheinlichkeitstheorie sowie der Ausgleichungsrechnung kann als meisterhaft bezeichnet werden. Dagegen wird, wie schon hier bemerkt sei, der mit ``Lebensversicherungsrechnung'' bezeichnete Abschnitt nicht die volle Zustimmung der Praktiker finden, denen der Verf. übrigens auch als Mathematiker einer Wiener Lebensversicherungsgesellschaft bekannt ist. Den ``Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung'' ist der erste Abschnitt des mit ``Wahrscheinlichkeitstheorie'' betitelten \textit{ersten Teiles} gewidmet. Die Einleitung gibt eine Übersicht über die bekanntlich sehr strittigen Grundbegriffe und setzt die Beziehungen zur Logik und Erkenntnistheorie (hypothetisches und hypothetisch-disjunktives Urteil, Zufall, gleichmögliche Fälle) auseinander. Die hierbei gewonnene Definition der mathematischen Wahrscheinlichkeit führt sodann zur \textit{direkten} Wahrscheinlichkeitsbestimmung durch Bildung und Zählung der möglichen und günstigen Fälle, wobei die Formeln der Kombinatorik und namentlich die \textit{Stirling}sche Näherungsformel wichtige Dienste leisten. Dieselbe Definition ermöglicht mit Hülfe der Sätze von der vollständigen und der zusammengesetzten Wahrscheinlichkeit eine \textit{indirekte} Wahrscheinlichkeitsbestimmung, und sie ist endlich auch unbeschränkter Anwendung fähig bei Problemen der ``geometrischen Wahrscheinlichkeit'', denen kontinuierliche und daher nicht zählbare Mannigfaltigkeiten möglicher und günstiger Fälle zugrunde liegen. Der zweite Abschnitt handelt von den Wahrscheinlichkeiten, welche die Ergebnisse wiederholter Beobachtungen betreffen, und hat demzufolge die Theoreme von \textit{Bernoulli} und \textit{Poisson} zum Gegenstande. Auf die Formulierung dieser Lehrsätze und des aus ihnen folgenden ``Gesetzes der großen Zahlen'' hat der Verf. die größte Sorgfalt verwendet, wie er andererseits ihre Tragweite wiederholt und entschieden abgrenzt. Insbesondere nimmt er bei der Besprechung des letzterwähnten Gesetzes Stellung gegen die dem Praktiker oft begegnende Ansicht, als könne das Gesetz der großen Zahlen zur Vorhersage über das künftige Geschehen dienen; es sei vielmehr ein Wahrscheinlichkeitssatz, der, wie jeder andere, gleichgültig, ob es sich um eine einmalige oder eine wiederholte Realisierung handelt, nur das Maß einer Erwartung bestimme, während über den Verlauf des wirklichen Geschehens kein Satz der Wahrscheinlichkeitslehre eine Auskunft zu geben vermöge. In diesem Zusammenhange bietet sich auch Gelegenheit, den von \textit{Lexis} eingeführten Begriff der Dispersion und ihre Unterscheidung in normale, unternormale und übernormale zu entwickeln und an instruktiven Beispielen zu erläutern. Mit dem zweiten Abschnitte ist die Theorie der Wahrscheinlichkeit ``a priori'' abgeschlossen, und es folgt im dritten Abschnitte die Darstellung der aposteriorischen Wahrscheinlichkeit, wobei die Wahrscheinlichkeit der möglichen Ursachen eines beobachteten Ereignisses und die Wahrscheinlichkeit künftiger Ereignisse auf Grund von Beobachtungen streng auseinanderzuhalten sind. Das Theorem von Bayes, dessen Herleitung mit Hülfe des Urnenschemas erfolgt, gestattet unter gewissen Voraussetzungen (Unveränderlichkeit der bedingenden Umstände während der Beobachtungen und gleiche apriorische Wahrscheinlichkeit der möglichen Hypothesen), aus dem Ergebnis einer ausgedehnten Beobachtungsreihe einen Schluß auf die unbekannten Wahrscheinlichkeiten der beteiligten Ereignisse zu ziehen; die für die Praxis außerordentlich wichtige Ergänzung dieses Theorems bildet die Umkehrung des Gesetzes der großen Zahlen, nach welcher die Zahl der Beobachtungen stets so groß gewählt werden kann, daß mit einer der Einheit beliebig nahen Wahrscheinlichkeit erwartet werden darf, die unbekannte Wahrscheinlichkeit des beobachteten Ereignisses liege innerhalb beliebig eng festgesetzter Grenzen. Die \textit{Bayes}sche Regel bietet auch eine Handhabe zur Bestimmung der aus Versuchen oder Beobachtungen für ein zufälliges Ereignis abgeleiteten Wahrscheinlichkeit, indem man nämlich dem Ereignis diejenige Wahrscheinlichkeit zuschreibt, welche sich aus der wahrscheinlichsten Hypothese über das beobachtete Ereignis dafür ergibt. Die andere Methode zur Bestimmung jener ``empirischen'' Wahrscheinlichkeit, bei der man alle mit dem beobachteten Ereignisse vereinbaren Hypothesen, jede entsprechend dem Grade ihrer eigenen Wahrscheinlichkeit, mitwirken läßt, hat eine geringere praktische Bedeutung. In dem vierten und letzten Abschnitte des ersten Teiles, betitelt ``Bewertung von Vor- und Nachteilen, welche an zufällige Ereignisse geknüpft sind'', finden die Begriffe der mathematischen Erwartung, des mathematischen Risikos und der moralischen Erwartung eine eingehende Behandlung. Die hierher gehörenden Probleme sind schon von den Klassikern der Wahrscheinlichkeitstheorie studiert worden. Der Verf. verwendet an ihrer Lösung teilweise die sehr allgemeinen Sätze \textit{Tschebyscheff}s über die Mittelwerte dem Zufall unterworfener Größen (Journal de \textit{Liouville} {(2)} \( 12\), 1867) -- auch das Gesetz der großen Zahlen ordnet sich diesen Sätzen unter -- und macht sodann eine entsprechende Anwendung auf die Risikotheorie. Mit dankenswerter Ausführlichkeit wird endlich die Theorie der moralischen Erwartung entwickelt, zu der bekanntlich das berühmte Petersburger Problem den Anstoß gegeben hat. Ausgehend von der \textit{Bernoulli}schen Hypothese (``Der aus einem beliebig kleinen Vermögenszuwachs resultierende Vorteil, oder sein moralischer Wert, ist dem Zuwachs selbst direkt, dem vorhandenen Vermögen umgekehrt proportional''), weist der Verf. auf die weittragende Bedeutung dieser oft unterschätzten Theorie hin und schildert, inwiefern sie die Grundlage der modernen Wertlehre (Begriff des ``Grenznutzens'') geworden ist und sich selbst der Anwendung auf psychologische und politische Probleme fähig gezeigt hat. Die im \textit{zweiten} Teile des Werkes entwickelte Theorie der Ausgleichungsrechnung gliedert sich in die einleitende Theorie der Beobachtungsfehler und die eigentliche Lehre der Kombination von Beobachtungen. Das Fehlergesetz wird einmal, in Anlehnung an den Gedankengang \textit{M. W. Croftons} aus der Hypothese der ``Elementarfehler'' und an zweiter Stelle nach \textit{Gauß} aus der des arithmetischen Mittels hergeleitet. Es folgt die Erläuterung des Präzisionsmaßes, des Fehlerrisikos, des durchschnittlichen, mittleren und wahrscheinlichen Fehlers und eine vergleichende Betrachtung der Genauigkeitsmaße. In der gleichen herkömmlichen Weise findet die Kombinationstheorie und die Methode der kleinsten Quadrate sachgemäße Erledigung. Ein näheres Eingehen auf die Einzelheiten erscheint mit Rücksicht auf das bekannte Buch des Verf. (Theorie der Beobachtungsfehler, Leipzig 1891) unnötig; doch ist hier die Stelle, auf die geschickt ausgewählten und sorgfältig durchgeführten zahlreichen Beispiele hinzuweisen, von denen die Darstellung der bis hierher besprochenen Theorien belebt wird. Mit dem \textit{dritten} Teile welcher der mathematischen Statistik gewidmet ist, betritt der Verf. ein Gebiet, das einer zusammenhängenden Schilderung bisher entbehrte. Von dieser Erwägung aus ist vor allem der erste, die menschlichen Massenerscheinungen vom Standpunkte der Wahrscheinlichkeitsrechnung behandelnde Abschnitt zu beurteilen. Die hier erörterten Fragen haben teilweise schon \textit{Laplace} beschäftigt, während eine befriedigende Lösung des Hauptproblems, nämlich der Auffindung von Kriterien für die Stabilität statistischer Verhältniszahlen und Mittelwerte, den schon erwähnten \textit{Lexis}schen Untersuchungen vorbehalten blieb. Eine ausführliche Darstellung der Dispersionstheorie und einiger darauf bezüglichen Untersuchungsergebnisse findet somit hier einen passenden Anschluß an die grundlegenden Entwicklungen über die Anwendbarkeit des Wahrscheinlichkeitsbegriffes in der Statistik. Von den Beispielen seien erwähnt das Geschlechtsverhältnis der Geborenen -- wobei sich die relative Häufigkeit der Knabengeburten in dem von \textit{Lexis} betrachteten Beobachtungsgebiete als eine typische Wahrscheinlichkeitsgröße mit mäßig übernormaler Dispersion herausstellt -- und die Sterblichkeitsverhältnisse auf den verschiedenen Altersstufen, mit dem gleichen Ergebnis für die Sterblichkeitsquotienten. Den Schluß des ersten Abschnitts bildet die Ausdehnung der Dispersionstheorie auf die sogenannten extensiven Größen, die durch benannte Zahlen zum Ausdruck kommen, im Gegensatz zu den intensiven statistischen Größen, welche die Intensität des Auftretens, die Häufigkeit einer Erscheinung kennzeichnende Relativzahlen darstellen. Der weitere Inhalt des dritten Teiles ist den speziellen Problemen gewidmet, die mit der Sterblichkeit und der Invalidität zusammenhängen; insbesondere wird der Sterblichkeitsmessung und der formalen Bevölkerungstheorie ein breiter Raum zugewiesen. Bei Besprechung der Sterblichkeitstafeln geht der Verf. auf die Deutsche Tafel vom Jahre 1887 sowie auf die von den meisten deutschen Lebensversicherungsgesellschaften benutzte, aus Beobachtungen an Versicherten (``ausgewählten Leben'') gewonnene ``Sterbetafel der 23 deutschen Gesellschaften'' ausführlich ein. Hieran schließt sich eine die neuesten Forschungen berücksichtigende Darstellung der Lehre von der Ausgleichung der Sterbetafeln und endlich, im Schlußparagraphen, die Übertragung gewisser Ergebnisse auf das verwandte Problem der Invalidität, wobei übrigens, was erwähnt werden muß, das wichtige Moment der Invaliditätsdauer an keiner Stelle Erwähnung gefunden hat. Der \textit{vierte und letzte Teil}, von den Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung der umfangreichste, ist mit ``Lebensversicherungsrechnung'' betitelt und zerfällt in vier Abschnitte: Versicherungswerte, Prämien, Prämienreserven, das Risiko in der Lebensversicherung. Es ist schon im Eingange dieser Besprechung betont worden, daß der Fachmann der ganzen Anlage und demzufolge auch den meisten Ergebnissen dieses Teiles keinen unbedingten Beifall zollen kann. Was aber der Praktiker in der Lebensversicherung nicht gutzuheißen vermag, das hat für sie auch keine theoretische Bedeutung, weil Theorie und Praxis der Lebensversicherungswissenschaft untrennbar sind. Der Verf. geht von der Annahme aus, daß die Grundlage der Lebensversicherung eine zweifache sei: aus der Erfahrung abgeleitete statistische Daten, welche den Verlauf der in Betracht kommenden menschlichen Massenerscheinung darstellen, und der Zinsfuß als der einfachste Ausdruck für die Stärke der Verzinsung. Mit dieser Annahme folgt er der zwar hergebrachten und sogar von Staats wegen sanktionierten, nichtsdestoweniger aber unwissenschaftlichen und unpraktischen Methode der ``Nettoprämien''; die dritte Rechnungsgrundlage, der Verwaltungskostensatz, wird gänzlich außer acht gelassen. Es ist hier nicht der Ort, über die Motive zu reden, die in den letzten Jahren zu eingehenden Kritiken jener dogmatischen Methode geführt haben. Allen Lesern des \textit{Czuber}schen Werkes aber, die in die wirklichen Verhältnisse der Lebensversicherung einen Einblick gewinnen und sich die Grundsätze der praktischen Lebensversicherungsmathematik aneignen wollen, sei das Studium der neuesten Fachliteratur dringend anempfohlen. Abgesehen von dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen den theoretischen Entwicklungen und den Erfahrungstatsachen, krankt die Darstellung des vierten Teiles an einer oft ermüdenden Breite. Dieselben einfachen Schlußfolgerungen werden immer aufs neue reproduziert, die elementaren Berechnungen von `` Versicherungswerten'' und Prämien bis in die kleinsten numerischen Einzelheiten wiederholt. Daß die ganze Reihe der Beispiele für Versicherungen mit Rückgewähr der Nettoprämien, weil praktisch bedeutungslos, ohne Schaden hätte weggelassen werden können, wird auch von Vertretern der Nettoprämienmethode zugegeben werden, und das gleiche gilt für die mit großer Weitschweifigkeit behandelten Versicherungen verbundener Leben. Dagegen sind wichtige Fragen, wie die Lehre von der Gewinnbeteiligung, überhaupt nicht erwähnt oder, wie die Theorie des Rückkaufs, nur kurz gestreift. Die Definition der Prämienreserve und die daran sich knüpfenden mathematischen Entwicklungen sind aus denselben Gründen abzulehnen wie die vorher behandelten Versicherungswerte und Prämien. Den Schluß der ``Lebensversicherungsrechnung'' bildet eine Darstellung des heutigen Standes der Risikotheorie. Über den Wert der hierher gehörenden Untersuchungen für die Praxis sind die Meinungen geteilt; man wird nicht zugeben können, daß ``die aus den Tabellen gebildeten Verhältniszahlen die Bedeutung typischer Wahrscheinlichkeitsgrößen mit normaler Dispersion, also denselben Charakter wie auf apriorischer Grundlage ermittelte Wahrscheinlichkeiten'' haben, und daß das versicherte Material völlig homogen demjenigen ist, aus dessen Beobachtung die Tabellen hervorgegangen sind. Die Bedeutung der Risikotheorie liegt daher, wie der Verf sagt, neben dem theoretischen Interesse, zu dessen Befriedigung die Untersuchungen angestellt wurden, in gewissen allgemeinen Resultaten und Einblicken, von denen vielleicht eine spätere Zeit weitergehenden Gebrauch machen wird. Eine nützliche Zugabe bilden die sieben numerischen Tafeln des Anhanges, von denen die erste die Werte der Funktion \[ \varPhi(\gamma)=\frac{2}{\sqrt \pi} \int_0^\gamma e^{-t^2}dt \] enthält, während sich die sämtlichen übrigen auf die Lebens- und Invaliditätsversicherung beziehen.
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