Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. I, II. (Q1448516)
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---|---|---|---|
English | Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. I, II. |
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Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft. I, II. (English)
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1927
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Verf. berichtet hier ``über einige wichtigen philosophischen Resultate und Gesichtspunkte, welche sich hauptsächlich aus der Arbeit der Mathematik und Naturwissenschaft selbst ergeben haben''. Die Tatsache, daß hier ein Forscher zu Worte kommt, der nicht nur die beiden Gebiete positiver Wissenschaft beherrscht, sondern auch in der philosophischen Literatur und Forschung zu Hause ist, muß wohl seine Darstellung den sonst oft beliebten Kompetenzzweifeln von vornherein entrücken. Text und Literaturverzeichnis suchen ``die Verknüpfung mit den großen Philosophemen der Vergangenheit'' herzustellen. ``Prinzipiell muß daran festgehalten werden, daß die Beschäftigung mit der Philosophie der Wissenschaften die Kenntnis der Wissenschaften selber voraussetzt.'' Die klare Herausarbeitung der Hauptlinien der Probleme und der glänzende Stil des Verf. gestalten die Lektüre außerordentlich anregend und genußreich. Der erste, der Mathematik gewidmete Teil beginnt im \textit{I. Abschnitt: Mathematische Logik, Axiomatik}, mit dem Formalen. \S\ 1: \textit{Relationen und ihre Verknüpfung; Struktur der Urteile}. Hinter einem einzelnen Urteil eines Wissenschaftsgebietes steht das Urteilsschema mit seinen Leerstellen, die durch die Dinge gewisser Gegenstandskategorien dieses Gebietes ausgefüllt werden können; das Urteil sagt dann eine Relation zwischen diesen Gegenständen aus; die Relationen sind nach gewissen Prinzipien zu verknüpfen. In diesen Rahmen fällt auch die aussondernde Definition, die aus einer umfassenderen Gesamtheit die Dinge mit einer gewissen Eigenschaft heraushebt. Beispiel: die Primzahlen. Wie man sieht, ist diese Urteilslehre nicht mehr an die grammatische Form des Urteils gebunden, gibt vielmehr ``einen festen Ausgangspunkt für eine logische Kritik der Sprache''. \S\ 2 gilt der \textit{aufbauenden mathematischen Definition}, von der die Definition durch Abstraktion ein besonders wichtiger Spezialfall ist. Ein Beispiel für letztere: die Kardinalzahlen als Mächtigkeiten. Schon hier tritt das auf, was später als einer der Grundzüge des konstruktiven Erkennens bezeichnet wird: Das Herausheben gewisser Merkmale, ihre Verdinglichung und Festlegung durch Zeichen. \S\ 3 behandelt das \textit{logische Schließen}, die Frage nach der formalen Gültigkeit eines Urteils. Von Wichtigkeit ist der Unterschied zwischen finiter und transfiniter Logik; bleibt man im Rahmen der ersteren, so kann jene Frage nach einem rein kombinatorischen Verfahren entschieden werden; nicht so im zweiten Fall, der durch das Auftreten von ``es gibt'' und ``alle'' gekennzeichnet ist. \S\ 4 behandelt \textit{die axiomatische Methode}. Die Forderungen der Widerspruchslosigkeit, Unabhängigkeit und Vollständigkeit; die Isomorphie zweier Sachgebiete; die Axiome als implizite Definitionen. Der \textit{II. Abschnitt: Zahl und Kontinuum; das Unendliche}, führt zur Mathematik als ``Wissenschaft vom Unendlichen''. \S\ 5: \textit{Rationale Zahlen}, \textit{das Komplexe} nimmt den philosophisch problemlosen Teil vorweg. \S\ 6 gilt \textit{den natürlichen Zahlen}. Die Frage, ob sie primär als Ordinal- oder als Kardinalzahlen aufzufassen seien, beantwortet Verf. im ersteren Sinne. Die etwas später stehende Bemerkung: ``Die Zeit ala Form des reinen Bewußtseins ist wesentliche, nicht zufällige Voraussetzung für die geistigen Operationen, in denen der Sinn der Zahlaussage gründet,'' hätte vielleicht in diesen Zusammenhang gestellt und etwas weniger beiläufig behandelt werden sollen. --- Die Zahlenreihe ist zunächst ``offene Mannigfaltigkeit von Möglichkeiten''. ``Der Sprung ins Jenseits'', dessen Sinn und Berechtigung hier das zentrale Problem ist, ``wird vollzogen, wenn sie zu einem geschlossenen Inbegriff an sich existierender Gegenstände gemacht wird''. Diese Problematik kehrt in den \S\S\ 7 und 8: \textit{Das Irrationale und das Unendlichkleine. Die Mengenlehre}, verschärft wieder. \S\ 7 behandelt zunächst die Leistung der Griechen für die Erkenntnis des Irrationalen, insbesondere die Entdeckung der Antinomien, ferner die beiden Versuche, ``das Kontinuum dennoch als Sein an sich zu fassen'': die atomistische Theorie des Raumes und das Unendlichkleine. Der erstere ist sofort unhaltbar, der zweite kann den Limesbegriff nicht ersetzen, der doch seinerseits das Unendlichkleine überflüssig macht. Erst die Mengenlehre bringt wieder die Wendung vom ``Werden'' des Limesbegriffes zum Sein. Dieses liegt im Gesetz, das die Entwicklung einer Folge, einer Irrationalzahl, bestimmt. Doch ist damit der ``Existentialabsolutismus'' nicht gerechtfertigt, der von \textit{allen} Irrationalzahlen, von der Menge aller Teilmengen einer Menge spricht. Hier setzt das \textit{Russell}sche Stufenprinzip ein, dessen Nichtbeachtung --- nach Verf. --- schon in die Definition der oberen Grenze einen circulus vitiosus hineinträgt. --- Diese Situation wird von den beiden gegensätzlichen Standpunkten, die in \S\ 9: \textit{Intuitive Mathematik: Brouwer}, und \S\ 10: \textit{Symbolische Mathematik: Hilbert}, zur Sprache kommen, anerkannt. Bei der ersten Einstellung gilt dann jener Sprung ins Jenseits nicht, das Kontinuum bleibt ``Medium freien Werdens'', und weite Teile der Mathematik verlieren ihren Sinn. Der zweite Standpunkt verlegt diesen Sinn aus der Wahrheit in die Widerspruchslosigkeit. Das wird in \S\ 11: \textit{Über das Wesen der mathematischeil Erkenntnis}, weiter ausgeführt. Er schließt mit einem Vergleich der drei Einstellungen zu den Grundlagenfragen der Mathematik mit den drei erkenntnistheoretischen Grundpositionen: Naiver Realismus (\textit{Cantor}), Idealismus (\textit{Brouwer}), Darstellung des Transzendenten im Symbol (\textit{Hilbert}). Im \textit{III. Abschnitt: Geometrie} sollen ``die von der Mathematik erarbeiteten Voraussetzungen zu einer philosophischen Diskussion des Raumproblemes'' zur Sprache kommen. \S\ 12: \textit{Nichteuklidische, analytische, mehrdimensionale, affine, projektive Geometrie; der Farbraum}. Erst nachdem der Aufbau der analytischen Geometrie gezeigt hat, daß der (mindestens unmittelbar) anschaulich nicht vorstellbare Raum von mehr als drei Dimensionen logisch denkbar ist, hat das Problem der Dimensionszahl einen Sinn, ``die Frage: durch welche inneren Eigentümlichkeiten ist der Fall \(n = 3\) vor den anderen ausgezeichnet?'' Für die philosophische Diskussion ist weiter von Bedeutung die Realisierung der Axiome der zweidimensionalen projektiven Geometrie im ``Farbraum''. Im \S\ 13: \textit{Das Relativitätsproblem}, wird die Frage aufgeworfen, wie die Objekte der Geometrie begrifflich, objektiv aufgewiesen werden können. Das ist nur relativ möglich, das Koordinatensystem muß individuell aufgewiesen werden; es ist ``das notwendige Residuum der Ichvernichtung''. Das Mehr oder Weniger an individuell Aufgewiesenem ist maßgebend für das Mehr oder Weniger, was von jenem aus an geometrischen Objekten begrifflich unterschieden werden kann; maßgebend dafür ist die Transformationsgruppe, die jene individuellen Elemente festläßt. \S\ 14: \textit{Die Bewegungsgruppe als geometrischer Grundbegriff} behandelt nach \textit{Helmholtz} und \textit{Lie} die Geometrie als Lehre vom Verhalten starrer Körper. In \S\ 15 kommt Verf. auf \textit{Riemanns Standpunkt} zu sprechen, der das Kontinuitätsprinzip (Nahewirkungsgesetze) auf die Geometrie überträgt und die metrische Inhomogenität in kausale Beziehung setzt zur erfüllenden Materie, womit ein Grundgedanke der Relativitätstheorie gegeben ist. Zum Schluß wird noch die Bedeutung der \textit{Analysis situs} kurz erörtert. Der den Problemen der Naturwissenschaft gewidmete zweite Teil schließt organisch an das unmittelbar Vorhergehende an mit dem \textit{I. Abschnitt: Raum und Zeit; die transzendente Außenwelt}. Den Ausgangspunkt bildet das \textit{Einstein}sche vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum. Das naive Bewußtsein schreibt ihm eine gewisse Struktur zu, indem es den Begriffen des absolut gleichen Ortes (zu verschiedenen Zeiten) und der absolut gleichen Zeit (an verschiedenen Orten), ferner den Begriffen der Gleichheit zweier Zeitintervalle und der Kongruenz zweier Figuren einen absoluten Sinn unterstellt. Die beiden ersten Annahmen werden durch die Relativitätstheorie zerstört; anstatt daß die Gleichzeitigkeit die Welt in Vergangenheit und Zukunft scheidet, wird durch einen vierdimensionalen Doppelkegel ein Gebiet passiver Vergangenheit und aktiver Zukunft ausgeschnitten; der absolute Raum verliert seinen objektiven Sinn vermöge der dynamischen Gleichwertigkeit der Ruhe und der gleichförmigen Translation. Dagegen prägt die Trägheit der Welt eine Struktur auf, deren gänzliche'' In-Abrede-Stellen --- in Verfolgung eines \textit{Mach}schen Gedankens --nicht möglich ist. Aber diese Struktur hängt ab von der Materie: ``Die Gravitation gehört in dem Dualismus von Trägheit und Kraft auf die Seite der Trägheit''. \S\ 17: \textit{Subjekt und Objekt} (\textit{Die naturwissenschaftliche Auswirkung der Erkenntnistheorie}) entwickelt zunächst, großenteils historisch, die Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten, in deren konsequenter Verfolgung schließlich nur die symbolische Konstruktion der Außenwelt bleibt, die auch Raum und Zeit nicht mehr als Konstruktionsmittel benutzt. Diese Konstruktion hat sich an die Regeln zu halten, daß verschiedenem Erleben eine Verschiedenheit im Objektiven entspreche, daß aber auch keine überflüssigen Unterscheidungen getroffen werden, die sich prinzipiell der Nachprüfung durch das Erlebnis entziehen. \S\ 18: \textit{Das Raumproblem} bringt zunächst psychologische und physiologische Grundlagen, ferner vorwiegend historische Ausführungen über das Wesen des Raumes. Zur Frage ``A priori oder a posteriori?'' wird zunächst der \textit{Helmholtz}sche Standpunkt dargelegt; auch die Relativitätstheorie leugnet nicht, daß die Raumstruktur apriorische Elemente enthält, zieht aber die Grenze anders als \textit{Kant}. Es entsteht nun die Aufgabe, die Sonderstellung der apriorischen Elemente unter allen formal denkbaren aufzuweisen; einiges Wenige ist in dieser Hinsicht immerhin schon geleistet: z. B. läßt sich die eine negative Dimension der metrischen Fundamentalform des Raum-Zeit-Kontinuums aus der Kausalstruktur der Welt begreifen. Der \textit{II. Abschnitt: Methodologie} beginnt in \S\ 19 mit den Problemen des \textit{Messens}. Wie wird der \textit{Galilei}sche Grundsatz verwirklicht ``\dots alles meßbar machen, was es noch nicht ist''? Was hat die über die Schwelle sinnlicher Unterscheidbarkeit hinausgehende Messung für einen Sinn? --- Die Zweckmäßigkeit der exakten Mathematik für die Physik liegt darin, daß sie jeder Verfeinerung der Meßgenauigkeit von vornherein gewachsen ist. Die \textit{Hjelmlev}sche Approximationsgeometrie wird abgelehnt. \S\ 20: \textit{Begriffsbildung}. Von entscheidender Bedeutung ist die Isolierung einfacher Vorgänge (u. U. auch durch Zerlegung des für die unmittelbare Wahrnehmung Einfachen) durch konstruktive Begriffe im Sinne von \S\ 2. Die Klasseneinteilung, die einer Definition durch Abstraktion zugrunde liegt, wird hier durch das Experiment gegeben. \S\ 21: \textit{Theorienbildung}. Der konstruktive Charakter der Naturwissenschaft: Sie bildet ein System, das nur als Ganzes geprüft werden kann. --- An eine brauchbare Theorie sind verschiedene Forderungen zu stellen: Einfachheit, Einstimmigkeit, Fehlen überflüssiger Bestandteile, Kontinuitätsprinzip. --- Kurze Kritik von \textit{Kant}s transzendentaler Logik. \textit{III. Abschnitt: Das Weltbild}. \S\ 22. \textit{Die Materie}. Die ursprünglich von der Wissenschaft aus der naiven Vorstellung übernommene Substanztheorie der Materie wurde allmählich durch die Feldtheorie abgelöst, die sich indessen nie rein durchgesetzt hat. Wie schon \textit{Helmholtz} erkannte, ist jede für sich wohl schon logisch unmöglich; die Synthese ist die Agenstheorie: ``Die Materie erzeugt das Feld, das Feld \dots überträgt die Wirkung von Körper zu Körper.'' Es folgen einige historische Ausführungen, insbesondere über die Beziehungen zum philosophischen Substanzbegriff; ferner ein Abschnitt über Erhaltungssätze, Atomistik, Äther. \S\ 23 \textit{Kausalität} (\textit{Gesetz, Statistik, Zweckmäßigkeit}). Es wird zuerst gezeigt, wie die inneren Schwierigkeiten des Kausalbegriffes durch den Gesetzesbegriff vermieden werden. --- Das Kausalgesetz als Norm, deren Geltung wir im Aufbau der Welt erzwingen (\textit{Helmholtz} in Übereinstimmung mit \textit{Kant}). --Statistik: Von der subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie aus läßt sich die objektive Bedeutung gewisser statistischer Aussagen nicht gut begreifen. ``Halten wir uns an die Methodik der physikalischen Forschung, die sich aus zwingenden Motiven herausgebildet hat, so müssen wir die statistischen als wahrhaft ursprüngliche neben den Gesetzesbegriffen anerkennen''. --- Für die Frage der Freiheit hat sich durch die Relativitäts- und Quantentheorie die Situation wesentlich geändert. --- Verf. gibt der Überzeugung Ausdruck, daß die theoretische Konstruktion auch die Tatsachen des Lebens und der Psyche zu erfassen vermöge. Besprechung: H. Hahn, Monatshefte f. Math. 35 (1928), Literaturbericht, 51-55.
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